Eines Tages brach sich Joe den Arm. Joe war ein Traceur. * Er liebte den Rausch, die Welt als einen gigantischen Hindernislauf zu betrachten – klettern und springen, flüchten, greifen, überspringen und rollen. Joe forderte sich auf seinen Läufen selbst heraus, manchmal ging es über Autos oder Mauern, manchmal über Dächer. Manchmal ging er auch zu weit. Aus der Ferne beobachtete ihn das Schicksal, beäugte ihn mit scharfem Blick und wartete auf seine Chance.
* Ein Traceur ist ein Teilnehmer am Parkour, eine Sportdisziplin – auch als Kunstform betrachtet – die sich darauf konzentriert, ununterbrochen und effizient sich vorwärts zu bewegen über, unter, um und durch von Menschen gemachten und natürlichen Hindernissen in einer Umgebung. Diese Bewegung kann in Form von Laufen, Springen, Klettern und anderen komplexeren Techniken erfolgen. Das Ziel der Ausübung des Parkours ist es, in der Lage zu sein, seine Bewegungen an das jeweilige Szenario anzupassen, so dass jedes Hindernis mit den Fähigkeiten des menschlichen Körpers überwunden werden kann. (Nach Wikipedia)
An dem Morgen, an dem er sich den Arm brach, war Joe mit ein paar Freunden zu einem Übungslauf für einen Videofilm aufgebrochen, den sie zu drehen beabsichtigten. Ein paar Aufwärmübungen gaben dem Schicksal seine Chance.
Joe lief eine schmale Mauer hinauf, blieb für einen Augenblick auf der Brüstung hocken und sprang dann ins Leere. Seine Finger schlossen sich um eine horizontale Metallstange vor ihm, eine Stange, die eigentlich seinen Fall bremsen sollte.
Eine Stange, befestigt an morschem Holz.
Das Holz gab nach, und Joe stürzte auf seinen Rücken.
Der lockere, staubige Boden stoppte seinen Fall. Er rappelte sich auf und umklammerte sein linkes Handgelenk, das wie ein zackiges Z erst nach unten und dann wieder nach oben gekrümmt war. Jemand rief den Notarzt. Joe versuchte zu lächeln, tapfer zu sein und nicht hinzuschauen.
Die Sanitäter kamen und machten ihre Diagnose: Zwei Brüche am Speichenknochen und ein schwer verrenktes Handgelenk. Im Krankenhaus wachte Joe mit schweren Augenlidern auf, benommen von den verabreichten Betäubungsmitteln und vom betroffenen Handgelenk. Bis zum Ellbogen steckte sein gesamter Unterarm in einem weißen Gipsverband.
Vier Wochen lang hatte Joe mit seiner körperlichen Einschränkung zu kämpfen. Er lernte, mit einer Hand zu tippen, ohne seine täglichen Duschbäder auszukommen, dass andere Leute seine Hemden zuknöpfen, seine Schuhe zubinden, sein Geschirr spülen und seinen Abfall wegbringen mussten.
Nach einem Monat wurde der Gips dann abgenommen. Endlich war Joe wieder frei. Er verbrachte erstmal 10 Minuten damit, sich zu kratzen, und die nächsten eineinhalb Stunden in der Badewanne.
Aber der Arm war nicht mehr der alte. Im Monat, in dem Joe den Arm nicht bewegen konnte, waren die Muskeln geschrumpft und zudem verkümmert. Joes Arm war nur noch halb so dick wie vor dem Unfall. Und über der Stelle, an der sein Knochen geflickt worden war, hing die Haut herunter wie eine lose Plastikhülle. Der zarteste Versuch, den Arm zu drehen oder zu strecken, schickte schmerzliche Schockwellen durch seinen ganzen Körper.
Eine Wärmetherapie half, die verkümmerten Muskeln zu dehnen, und Joe war in der Lage, sein Handgelenk jeden Tag ein bisschen mehr zu drehen. Endlich konnte er sich wieder am Hinterkopf kratzen, die Computertastatur benutzen, seine Arme heben und den Herrn loben – dabei gab Jesus Joe den Tipp, mit dem Krafttraining zu beginnen. Nachdem seine 20 kg-Hantel über einen Monat unter seinem Bett im Dunkeln von Spinnweben überzogen war, fand sie nun wieder ihren Weg in die Zimmermitte und blinzelte gegen das Licht. Begeistert ergriff Joe die Hantel mit der linken Hand zum Hochstemmen. Nichts. Er strengte sich an, schwitzte, biss die Zähne zusammen, kaute auf seiner Zunge. Er schnaufte, stieß leise Drohungen gegenüber der starrköpfigen Eisenmasse aus. Aber das Gewicht blieb, wo es war, und grinste ihn förmlich an. Joe musste seine Taktik ändern.
Von seiner Schwester lieh er sich eine kleine erweiterbare Hantel (als Briefbeschwerer, gab er vor). Die Hantel war winzig und mit grünem Plastik beschichtet. Joe achtete darauf, von niemandem gesehen zu werden, als er sich mit ihr in sein Zimmer verkroch.
Während er sich mit seinem kleinen grünen „Briefbeschwerer“ abmühte, konnte er seine Freunde unter dem Gewicht von Riesenhanteln ächzen hören. Wieder bei Kräften, würde er bei ihnen sein. Doch das war noch nicht der Fall, er war immer noch beschämend schwach.
Zuerst war es schwere Arbeit – sogar mit diesem lächerlich kleinen Spielzeug – und jede Übung schmerzte ihn. Aber als die Tage vergingen und er das Stechen in seinem Handgelenk geflissentlich ignorierte, begann der Schmerz nachzulassen. Bald hatte Joe das kleine grüne Spielzeug gemeistert.
Wie stolz er war, als er zwei weitere grüne Scheiben hinzufügen konnte. Seine Freunde applaudierten, als sie sein Geheimnis entdeckten.
Er war zwar immer noch schwach, sagte er sich, aber er wurde langsam stärker. Die Lösung lautete, seine Hoffnungen nicht mit unrealistischen Erwartungen zunichte zu machen. Er würde klein beginnen und sich dann stetig hocharbeiten.
Joe gab in den folgenden Wochen nicht auf. Bald hatte er alle kleine grünen Scheiben auf der Hantel und schwang sie herum wie ein Experte. Jetzt wurde er sich auch des Fortschritts bewusst, den er machte. Endlich war er soweit. Zu seiner Überraschung schaffte er die Eisenhantel unter dem Bett mit Leichtigkeit, bezwungen von der Entschlossenheit und den kleinen „grünen” Trainingsfortschritten.
Für Joe wird es noch einige Zeit dauern, bevor sein Arm wieder vollkommen normal sein wird. Aber er weiß, dass Klagelieder über vergangene Errungenschaften ihm dabei nicht helfen werden.
Stattdessen richtet er ein wachsames Ohr auf die Lippen des Herrn, beherzt, jedem von Jesus angedeuteten nächsten Schritt zu folgen – ungeachtet wie albern er auch klingen mag. Vielmehr hält er seine Augen auf den Herrn und Seine Stärke gerichtet, von der er weiß, dass er sie benötigen würde, um jedes zusätzliche Kilo heben zu können. Er schaut zurück auf das, was er schon geschafft hat, sowie darauf, eines Tages wieder vollkommen gesund zu sein.
Und wenn dieser Tag kommt, nun, dann könnte er vielleicht wieder losziehen und auch den nächsten Parkour laufen.