Unser Verständnis der Welt ist oft auf das beschränkt, was wir kennen, und unsere Weltanschauung wurde durch unsere Erfahrungen geprägt – unsere Kultur, unsere Bildung, unsere Erziehung, unseren sozioökonomischen Status – sowie durch unsere persönlichen Beziehungen, Normen und Bestrebungen. Wenn wir einen Mann sehen, der in einem Hauseingang schläft, oder eine Frau, die mit undeutlicher Stimme um Hilfe bittet, neigen wir dazu, ihren Zustand mit unserem Verständnis der Welt zu vergleichen. Wir könnten annehmen, dass mit jemandem in einem solchen Zustand etwas grundlegend falsch ist.
In Wahrheit versetzt die Armut die Menschen in eine andere Welt. Der Obdachlose, der in einer Ecke schläft, konnte in der Nacht zuvor vielleicht nicht gut schlafen, weil er auf seine wenigen Besitztümer achthaben musste. Diese Frau hat vielleicht eine Krankheit, die ihre Sprache beeinträchtigt.
Chelle Thompson schreibt: „Die Menschen gehen selten über sich selbst hinaus, um die Bedürfnisse und Ängste anderer wirklich zu verstehen. Wir projizieren oft unsere eigenen Gedanken und Überzeugungen auf Fremde und urteilen darüber, wie sie unserer Meinung nach ihr Leben leben sollten.”
Jemand hat gesagt, dass wir, um andere zu verstehen, hundert Schritte in ihren Schuhen gehen sollten. Aber kann ich in die Schuhe einer alleinerziehenden Mutter steigen, die obdachlos und krank ist, die mit Medikamentenabhängigkeit kämpft und der ihre Kinder weggenommen und in Pflegefamilien untergebracht wurden? Wie kann ich jemals fühlen, was sie fühlt? Ich kann nicht in ihren Schuhen gehen, aber ich kann sie fragen, ob sie mit mir reden und mir ihre Geschichte erzählen will, mir sagen will, wie es sich in ihren Schuhen anfühlt. Vielleicht profitieren wir beide davon.
Mein Freund Quentin leidet an der Parkinson-Krankheit und hatte Halluzinationen, die ihm Angst machten und es ihm schwer machten, ein normales Leben zu führen. Als er in ein Pflegeheim kam, verstand das Personal dort seinen Zustand und ein Pfleger erklärte Quentin, dass einige Gehirnzellen ihm falsche Signale sendeten. Damit wurde die Schuld dort gesucht, wo sie hingehörte – bei seiner Krankheit und nicht bei Quentin selbst.
Auf einer Konferenz zum Thema psychische Gesundheit, an der ich einmal teilnahm, sagte ein Redner: „Sagen Sie nicht ‚Er ist schizophren’, sondern ‚Er hat Schizophrenie’.” Auch ich habe mehrere gesundheitliche Probleme, aber ich möchte nicht über sie definiert werden. Ich möchte nicht als „die kranke Frau” bezeichnet werden.
Diese Perspektive verändert nicht nur unsere Worte, sondern auch unsere Einstellung. Können wir die Person von ihrem Zustand trennen, egal ob es sich um eine psychische Krankheit, Drogenabhängigkeit, Armut oder eine körperliche Krankheit handelt? Können wir sehen, wer in ihr steckt und sie mit Respekt behandeln? Wenn wir über Äußerlichkeiten oder Vermutungen hinwegsehen können, haben wir die Chance, unter einem rauen oder unattraktiven Äußeren etwas Gutes, ja sogar Schönes zu entdecken.
Als mein Mann und ich anfingen, ehrenamtlich in einem örtlichen Obdachlosenheim zu arbeiten, verschwanden meine eigenen Vorurteile ziemlich schnell, nachdem ich die Gründe erfuhr, warum diese alleinerziehende Mutter oder dieser ältere Mann dort war. Oft hatte ein Zusammentreffen unglücklicher Ereignisse, die jedem hätte passieren können, dazu geführt, dass sie keine Wohnung mehr hatten und niemanden, der sie aufnehmen konnte.
Als ich einen Mann fragte, was er früher gemacht hatte, sagte er, er sei Wirtschaftsprüfer gewesen, „damals, als ich noch ein Mensch war.” Es stellte sich heraus, dass er tatsächlich der Leiter einer staatlichen Prüfungsabteilung war, bevor ihn die Depression seinen Job kostete und schließlich alles, was er hatte. Nach einer Behandlung im Heim fand er einen neuen Job und hat jetzt wieder eine eigene Wohnung.
Die Mitarbeiter des Obdachlosenheimes sprechen die Bewohner freundlich mit Vornamen oder sogar höflich mit Herr oder Frau So-und-so, an. Wenn wir Respekt zeigen, geben wir ihnen Würde. Würde hilft den Menschen, sich selbst positiver zu sehen, und das gibt ihnen Hoffnung. Hoffnung gibt den Willen, es zu versuchen und weiterzumachen. Auf diese Weise kann unser Respekt jemandem helfen, ein neues Leben zu finden.
Es stellte sich heraus, dass Quentins starke Halluzinationen auf eine falsche Medikation zurückzuführen waren. Als die Dosis verringert wurde, sah er nicht mehr so viele seltsame Ereignisse um sich herum. Er steht immer noch vor Herausforderungen, aber im Pflegeheim wird er verstanden und akzeptiert – und er ist glücklich.